BAG, Beschluss vom 30.04.2024, Az: 1 ABR 10/23
Im aktuellen Streit um die Anwendbarkeit von Tarifverträgen bei Tarifkollisionen hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) ein bedeutendes Urteil gefällt. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 13. Januar 2023 wurde zurückgewiesen. Der Fall dreht sich um eine zentrale Frage: Welcher Tarifvertrag gilt, wenn in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften konkurrierende Tarifverträge abgeschlossen haben?
Hintergrund
Die Arbeitgeberin betreibt mehrere Unternehmen im Schienennahverkehr und ist Mitglied des Arbeitgeberverbands AGV MOVE. Mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) sowie der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) wurden über die Jahre verschiedene Tarifverträge geschlossen. Ein Tarifvertrag, der Grundsatzfragen regelte, war bis zum 31. Dezember 2020 gültig und schloss die Anwendung des § 4a TVG (Tarifvertragsgesetz) aus. § 4a TVG regelt, welcher Tarifvertrag in Betrieben mit mehreren konkurrierenden Tarifverträgen vorrangig angewendet wird, nämlich derjenige der Mehrheitsgewerkschaft.
Am 18. März 2021 informierte die Arbeitgeberin den Betriebsrat darüber, dass ab dem 1. Januar 2021 nur noch die Tarifverträge der Mehrheitsgewerkschaft gelten sollten. Dies führte zu einer Auseinandersetzung, da der Betriebsrat Informationen über die Mehrheitsverhältnisse der Gewerkschaften verlangte, um seine Aufgaben wahrnehmen zu können. Der Betriebsrat wollte insbesondere wissen, welche Gewerkschaft zum Zeitpunkt des Abschlusses des letzten kollidierenden Tarifvertrags die Mehrheit hatte.
Die rechtliche Auseinandersetzung
Der Fall wurde schließlich vor das Bundesarbeitsgericht gebracht, nachdem der Betriebsrat gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berufung eingelegt hatte. Das BAG hatte dabei zwei zentrale Fragen zu klären:
- Zu welchem Zeitpunkt werden die Mehrheitsverhältnisse der Gewerkschaften bestimmt, um die Geltung eines Tarifvertrags gemäß § 4a TVG zu beurteilen?
- Hat der Betriebsrat ein Recht auf umfassende Auskunft über die Mehrheitsverhältnisse und andere Informationen, die für seine Arbeit erforderlich sein könnten?
Wichtige Ergebnisse
Das BAG entschied, dass die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats unbegründet sei. Dabei wurden zwei wesentliche Punkte hervorgehoben:
- Zeitpunkt der Mehrheitsbestimmung: Die Mehrheitsverhältnisse der Gewerkschaften werden zu dem Zeitpunkt festgestellt, an dem der letzte, kollidierende Tarifvertrag abgeschlossen wurde. Ein rückwirkendes Inkrafttreten eines Tarifvertrags hat hierbei keine Bedeutung. Damit ist die Frage der Anwendbarkeit eines Tarifvertrags eindeutig an den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geknüpft und nicht an nachträgliche Entwicklungen.
- Einschränkung der Auskunftspflicht des Betriebsrats: Das Gericht stellte fest, dass der Betriebsrat nicht hinreichend dargelegt hat, warum die verlangten Informationen für die Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich wären. Die Auskunftspflicht des Arbeitgebers gegenüber dem Betriebsrat ist zwar ein wichtiges Instrument, jedoch nicht grenzenlos. Insbesondere bei vergangenheitsbezogenen Informationen muss der Betriebsrat nachweisen, dass diese für seine Arbeit unerlässlich sind.
Bedeutung des Urteils
Dieses Urteil hat weitreichende Konsequenzen für die Praxis. Es schafft Klarheit darüber, wie Tarifkollisionen in Betrieben mit mehreren Gewerkschaften gelöst werden und welche Rolle der Zeitpunkt des Tarifabschlusses dabei spielt. Die Entscheidung verdeutlicht, dass ein rückwirkendes Inkrafttreten eines Tarifvertrags keine Auswirkung auf die Bestimmung der Mehrheitsverhältnisse hat. Dies stärkt die Rechtssicherheit für Arbeitgeber und Gewerkschaften, da die Anwendbarkeit von Tarifverträgen eindeutig geregelt ist.
Darüber hinaus zeigt das Urteil die Grenzen der Rechte und Pflichten des Betriebsrats auf. Obwohl der Betriebsrat grundsätzlich Anspruch auf Informationen hat, die für die Erfüllung seiner Aufgaben notwendig sind, muss dieser Anspruch klar begründet werden. Das BAG machte deutlich, dass Vergangenheitsbezüge allein nicht ausreichen, um eine umfassende Auskunftspflicht des Arbeitgebers zu rechtfertigen.
Fazit
Das Urteil des BAG setzt wichtige Leitlinien für den Umgang mit Tarifkollisionen und die Auskunftsrechte des Betriebsrats. Es verdeutlicht, dass bei Tarifkollisionen die Mehrheitsverhältnisse der Gewerkschaften zum Zeitpunkt des letzten Tarifabschlusses entscheidend sind. Diese Klarstellung ist besonders relevant für Unternehmen, in denen mehrere Gewerkschaften konkurrieren, da sie einen verlässlichen Maßstab für die Gültigkeit von Tarifverträgen bietet.
Gleichzeitig schränkt das Urteil die Rechte des Betriebsrats ein, Informationen ohne ausreichende Begründung einzufordern. Für Arbeitgeber bedeutet dies weniger Unsicherheit, da die Auskunftspflicht klar begrenzt ist. Für Betriebsräte wiederum unterstreicht das Urteil die Notwendigkeit, ihre Forderungen gut zu begründen und einen klaren Bezug zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben herzustellen.
Mit dieser Entscheidung hat das BAG sowohl die Interessen der Arbeitgeber als auch die Rechte der Gewerkschaften und Betriebsräte in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht. Unternehmen und Arbeitnehmervertretungen sollten die Grundsätze dieses Urteils beachten, um Konflikte in der Zukunft zu vermeiden.
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